Georg Salden


Jan Tschicholds „doppel-s“ und die globale Gesellschaft

Jan Tschichold hat beruflich viele positive Zeichen gesetzt und mit seinen Ausführungen gute Entwicklungen angeregt. Er scheint ein Mensch gewesen zu sein, der sich auch selbst korrigieren konnte. Das zeigt seine unterschiedliche Typografie der frühen und der späteren Jahre. Ich denke, er wäre zumindest interessiert, wenn ich hier seine Ansichten zum „scharfen-s“ untersuche.
Der aktuelle Anlaß dazu ist gegeben, weil
1. deutsche Schriftdesigner ein international anerkannten „scharfes-S“, also eine Großbuchstaben-(Versal)-Form als Ergänzung zu der bisherigen Kleinbuchstaben-(Gemeinen)-Form fordern. Dieser Wunsch wird verständlich, wenn man sieht, wieviel Versalsatz heute besonders in der Werbung benutzt wird. Zudem müssen amtliche Formulare handschriftlich mit Versalbuchstaben (also auch „scharfem-S“) ausgefüllt werden.
2. Tschichold die Gemeinen-ß-Form formal hergeleitet hat aus dem Zusammenwachsen eines „langen $ “ mit einem „runden s“. Neuere Forschung hat ergeben, daß die schrifthistorische Entwicklung anders verlief.
3. die vor wenigen Jahren erfolgte Deutsche Rechtschreibreform dem ß als Buchstaben mehr Selbständigkeit gegeben, gleichzeitig jedoch seine Anwendung stark reduziert hat. Dies hat geänderte Schreibweisen zur Folge.

Die deutsche Orthografie in Tschicholds Zeit sah ein lebendiges Wechselspiel zwischen ß und ss vor. Es hieß „muß“ und „müssen“, „lassen“ und „verläßlich“, „Gruß“ und „grüßen“, „daß“ und „das“, „Maß“ und „Masse“. Ob s, ss oder ß richtete sich danach, welche Silben einander folgten oder welcher Begriff gemeint war. Das mußte erarbeitet und geübt werden. Die Rechtschreibreform behält das ß in allen Wortwandlungen bei, das doppelte ss ebenso. Man sieht dies als Vereinfachung an. Ich selbst bin an die alten Regeln gewöhnt.
Tschichold will mit seinem Aufsatz von 1940 die seinem Gefühl nach falsche Gestaltung des „scharfen-s” in den Schriftgießereien verhindern. Da das ß nur in deutsch-sprachigen Texten vorkommt und die Deutschen 500 Jahre Fraktur druckten und lasen, wurde den Zeichensätzen von Antiquen und Sansserifs erst ab etwa 1900 ein ß hinzugefügt. Schriftgießereien lehnten sich dabei oft an die gewohnten Fraktur-eszett an. Manche entsprachen dem andersartigen Charakter der lateinischen Buchstaben mit dem „dreierles-s”.
Tschichold lebte damals in der Schweiz, einem ß-freien Land und konnte kaum ahnen, daß in Deutschland ein Jahr später die Fraktur offiziell geächtet wurde. Er ist in seinem Gestaltungsvorschlag so radikal wie immer. Vor allem Schriftentwerfer ohne täglichen Umgang mit dem ß glauben seitdem, es solle möglichst viel von dem runden s in der Ligatur erhalten bleiben. Diese ß sehen für mich aus wie Kleinkinder am Strand, denen ihr üppiges Windel-Paket in die Kniekehlen gerutscht ist.
Ich bewundere alle Wissenschaftler, die gerade in den letzten Jahren frühe Premieren des „eszett“ untersucht haben. Mein Blick geht jedoch wie der Tschicholds auf die gestalterische Herausforderung.

Ganz ohne Schriftgeschichte geht es nicht. Unsere Großbuchstaben basieren auf der römischen Kapitalis (vor und um Chr). Unsere Kleinbuchstaben stammen ab von etwas später (erste Datierung materialbedingt prothetisch) auf Wachstafeln eingeritzten Notizschriften, den römischen Kursiven. Albert Kapr hat diese Entwicklung in „Schriftkunst“ 1971 ausführlich dargestellt. Pauschal ausgedrückt: Die jüngere römische Kursive verwendet schon n, m, u, so wie wir, dazu Ober- und Unterlängen an einigen Buchstaben und ein rationeller schreibbares, langes $. In den nächsten 600 Jahren hat diese „private“ Schreibweise alle „öffentlichen“ (Buch)-Schriften so beeinflußt, daß seit Karl dem Großen unsere lateinischen Kleinbuchstaben vorgeformt waren. Ihrem langen $ fehlte inzwischen die Unterlänge. Es stand auf der Basislinie, auch am Wortende und als Doppel $$. In diesem Schreib-Alphabet gab es kein „rundes s“.

Während der Christianisierung hielt die irische Unziale auch in deutschen Klöstern die Erinnerung an das runde s wach. Schreibmönche haben dann – vielleicht durch griechische Manuskripte mit zwei s-Formen angeregt – auch in lateinischen und nationalsprachigen Texten neben dem langen $ ein Schluß-s angewendet. Zunächst an Wort-Enden, später auch an Silben-Enden. Hier wie in folgenden Druckschriften entstehen unterschiedliche Formen des jetzt „gebrochenen runden s“. Merkwürdigerweise zeigt das End-s zeitweise eine Form, die einem x-hohen „eszett“ ähnelt (Fig. 3,3). Schreibmeister der nächsten Zeit benutzten das End-s oft sehr manieriert ausschweifig (Fig. 3,7).
Die alltäglichen Schriften für Listen und Verträge nahmen zu gegenüber den Buch-Manuskripten. In diesen entfaltet sich die enge, eckige Gotik. Die Tagesschrift bleibt rund, locker, spontan. Aus ihnen gehen eigenwillige gegossene „Bastarden“ hervor, keine Kursiven als Begleitschrift zu den Druckschriften.

Das ist in Italien anders. Die Renaissance ist Antiqua-orientiert (lateinisch, rund). Die persönliche, humanistische Handschrift ist wesentlich disziplinierter geformt als die gotische. Dort stellen schon die ersten Stempelschneider die „Kursive“ als Begleitung neben die „Antiqua“.
In lateinischen und italienischen Texten, geschrieben oder gedruckt, gab es kein „eszett“. Tschicholds Herleitung des „eszett“ aus humanistischen Kursiven ist in Wirklichkeit von Anfang an ein „doppel-s“, auch wenn er ein langes $ in schöner Weise mit einem runden s verbindet.

Mehr Menschen lasen und schrieben die nun gedruckten Nationalsprachen, allerdings in vielen Dialekten. Sie brauchten genaue Laut-Bestimmungen. Der s-Laut wird in vielen Sprachen unterschiedlich gesprochen und bezeichnet. Es gibt weiche „stimmhafte“ s und scharfe „stimmlose“ s, das z, das tz, sch, tsch, dsch, c, ç, th und mehr. Das z war zB. in einigen deutschen Dialekten ein weiches s. In Niederländisch und Englisch ist es noch immer so.
Heute ist im Hochdeutschen s am Silben-Ende allgemein scharf, am Silben-Anfang allgemein weich. Ausnahmen: s vor p und t sind in Norddeutschland scharf (der spitze Stein), in Schwaben aber sch (also: der Poscht-Schport).

s nach ch kann dialektisch sein. Werden Ochse oder Sachse mit scharfem oder weichem s gesprochen? Wenn zwei s in der Wortmitte aufeinander treffen, müßte die vordere Silbe mit scharfem s enden, die zweite mit weichem s beginnen. Das kann man nicht sprechen. Folglich wird das zweite s im Silben-Anfang auch scharf. Eigentlich ist also Anwendung und Aussprache der s oder doppel-ss bei uns sinnvoll geregelt.
Was kann mittelalterliche Schreiber und Drucker bewogen haben, ein „scharfes-s“ zusätzlich einzuführen? Die wenigen Bedeutungsänderungen durch ss oder ß geben keine Begründung ab. Reisen und Reissen kann man ohne ß. Masse und Maße hätte man auch wie Wagen und Waagen unterschiedlich machen können. Ich weiß, daß die Decke weiß ist. Ich heiße wie der heiße Ofen. Alles verständlich. Ein einleuchtender Grund wäre, daß ausgerechnet maßgebende Fachleute das s anders aussprachen als wir heute. Um es präzise zu sagen: daß die Leute „hessisch“ sprachen, beide s weich. Heute noch.
Verblüffend ist die Nachhaltigkeit dieser, eventuell auf Dialekt beruhenden Regelung. Der Große Duden von 1934 (Frakturzeit) sagt: „$$ steht als Zeichen des stimmlosen S-Lautes nur inlautend nach kurzem Selbstlaut. ß steht zur Bestimmung des stimmlosen S-Lautes im Auslaut in allen Fällen, im Inlaut nur nach langem Selbstlaut.“ Offensichtlich glaubte man immer noch, „das Muß (der Zwang)“ und „das Mus (der Brei)“ werde mit unterschiedlichem s-Ton ausgesprochen. Ich höre nur das u kurz oder lang, s und ß tönen gleich.

In der Anfangszeit wird das $3 eher beliebig verwendet. Warum „Bo$3heit“? Das zugehörige Adjektiv „böse“ hat ein weiches s, und „Bosheit“ wäre nicht weniger scharf gewesen. Auch bei „Gen$3flei$ch“ hätte ein s genügt, wenn er wirklich Gensfleisch geheißen hätte. Er hieß aber nach einem Mainzer Manuskript von 1430 Gensefleisch. $3 ist hier eine Abreviatur und diese bringt uns auf die Spur der „eszett“ Ausformung.
Man findet in lateinischen Buchschriften und frühen Drucken überraschend viele 3 (sehen aus wie ein Fraktur-zett in x-Höhe) angehängt an Buchstaben, wo sie scheinbar keinen Sinn machen, zB „atq3“. Es ist ein Kürzel aus römischer Zeit und bedeutet „ue“. In ihrer Gesamtheit beschleunigten Kürzel das Schreiben wie Stenografie und waren lange unverzichtbar. Siehe dazu : »Max Bollwage „Bildergeschichte“: Kein Zett im Eszett?«
Noch in der berühmten Bodoni-Schriftprobe von 1818 setzte Bodoni in der ersten Zeile ab: „Quousq; (Quousque) tandem abutere Catalina...“. Ihm war im 19. Jahrhundert also noch die Bedeutung eines Semikolon als Kürzel „ue“ aus den „Tyronischen Noten“ (vor Christus) bekannt!

Auch an das $ wurden unterschiedliche Abkürzungen angehängt:
»$ von einem nach links unten geführten hakenförmigen Schrägstrich oder einem dem jetzigen Fragezeichen ähnlichen Doppelhaken durchstrichen bedeutet „ser“. ... Sehr bald wird es an den oberen Bogen des $ angehängt und geht auch nicht mehr durch den langen Schaft. In dieser Form ist es leicht mit ß zu verwechseln, ...Beispiele: di$3(er) ... aber auch du$3(em), Inge$3(igel) oder sogar vor$3(crewen). « (Dieser Abschnitt und Abb. zitiert aus „Grundriß der Genealogie, Band 5, von Paul Arnold Grun“ im C. A.Starke Verlag, Limburg).

Wie heute zB ein Abkürzungspunkt bei „tägl.“ eine andere Bedeutung hat als bei „Prof.“, stand das Semikolon für viele Abkürzungen, die der Leser geschickt entschlüsselte. Auch an den nebenstehenden $ scheint so manches Semikolon mitgewirkt zu haben. Wenn nämlich ein Schreiber mit seinem breitgeschnittenen Federkiel schnell einen Punkt auf Mitte setzte und darunter ein Komma, dieses dutzende mal am Tag, verknüpfte der Tintenfluß die beiden Satzzeichen zu einer Figur, die genau wie ein Textur-3 (zett) aussieht. Vielleicht ist der echte zett-Buchstabe relativ spät auch so erfunden worden. Jedenfalls ist das, was wir als z in gotischen Handschriften lesen, ein r in spezieller Schreibweise.
Es existierte also vor dem ß ein sehr ähnlicher handschriftlicher Buchstabe, der weder aus $s noch aus $z entstanden ist. Die Schriftgießer und Drucker des nächsten Jahrhunderts brauchten weniger Kürzel (sie waren ja selbst das totale Kürzel der Handschrift) als vielmehr verläßlich lesbare, prägnante Buchstaben. Ihnen kam das quasi herrenlose $ mit dem merkwürdigen Kürzel 3, der selbst aussah wie ein gotischer Buchstabe gerade recht. Sie hatten damit ihr „scharfes s“.

Sprachwissenschaftler bauten in echt deutscher Gründlichkeit drumherum ein kompliziertes Regelwerk, das auch nach der Rechtschreibreform noch gilt. Tatsächlich hätten sie jetzt besser getan, die zwar attraktive aber nicht nur nutzlose sondern im internationalen Gebrauch verwirrende Schriftfigur des „doppel-s“ nach Schweizer Vorbild abzuschaffen. Wirklich nötig scheint es vor allem für Erkennungsdienste zu sein und für Fußballspieler auf ihren Trikots. Man kann es ja als Logo wie ein Smiley erhalten. Vor allem hätten wir jetzt nicht die peinliche Debatte um einen erweiterten deutschen Sonderweg, nämlich das versale „Doppel-S“. Dessen Protagonisten haben die Versuche des vergangenen Jahrhunderts zu diesem Design recherchiert und festgestellt, daß es keine vernünftigen Vorschläge gab. Folglich wollen sie in unserer Internet-Gesellschaft genau die Schriftfigur als passend zu Großbuchstaben durchsetzen, die als gotischer Kleinbuchstabe des späten Mittelalters in Kombination mit einem Kürzel der vorchristlichen Zeit schon bei den Kleinbuchstaben keine echte Funktion mehr hat.

Ich wäre unglaubwürdig, täte ich so, als ob mir schriftentwerferisch das „eszett“ nicht ans Herz gewachsen wäre. Allerdings habe ich mich nicht auf den italienisch-kursiven-doppel-s-Vorschlag Jan Tschicholds festgelegt. „Dreierles-s passen oft besser zu Sanserifs. Auch für ein versales „scharfes-S“ wäre dort mehr Formannäherung zu finden. Natürlich habe ich zahllose Designs selbst ausprobiert, einiges davon habe ich den oben erwähnten Recherchen wiedergefunden. Letztlich glaube ich nicht mehr an die Möglichkeit einer überzeugenden Lösung. Auch weil sogar eine solche dem positiven Auftritt der deutschen Sprache beim globalen Wettbewerb im Wege stehen würde.
Tschichold hat erlebt, wie die Zeiten sich wandeln und andere Entscheidungen verlangen. Wenn unsere Pädagogenschaft oder die Politik von uns Schriften-Entwerfern ein „scharfes-s/scharfes-S” erwartet, schlage ich vor, die damalige historische Evolution neu zu vollziehen. Wir nehmen die heute gebräuchlichen s und S und kennzeichnen sie mit einer Abreviation. Die nächstliegende ist die Cedilla, sie kommt dem Semicolon sehr nahe und könnte sogar auch aus ihm entstanden sein.

Der große Vorteil: Beide Buchstaben gibt es schon in jedem OpenType-Font:

und

Damit wäre die Aufgabe sinnvoll gelöst, auch für handschriftliches Ausfüllen von Formularen. Das alte ß kann für frühere Texte weiter zur Verfügung stehen.

PS: Da es keiner technischen und kostentreibenden Neuerungen bedarf, kann der Übergang von Altem zu Neuem gemächlich abgewickelt werden.


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